Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben sich hilfesuchend an göttliche Mächte gewandt. Doch nicht nur in der äußersten Not und Unruhe vermögen Gebete, die Sprache des Herzens zu sprechen – dies können sie auch in überschwänglicher Freude und Dankbarkeit. Gebete wie zum Beispiel die biblischen Psalmen spiegeln die Sorgen und den Seelenfrieden der Betenden. Das Seminar soll folgende Aspekte des Gebets beleuchten:
1. Gebet und Gotteserkenntnis – theologische Aspekte: Die Rede über Gott wird anders, tiefer und erfahrungsnäher, wenn sie im Reden zu bzw. mit ihm gründet. Daher gilt das Gebet seit Jahrhunderten als Schlüssel zur Gotteserkenntnis. Dies lässt sich an theologischen Klassikern wie Augustins Confessiones, Anselm von Canterburys Proslogion, Karl Barths Auslegung desselben in Fides quarens intellectum, Søren Kierkegaards Erbaulichen Reden und Gerhard Ebelings Dogmatik zeigen. Wie genau gelangen die Betenden jeweils zur Erkenntnis Gottes, und wie verhält sich die Gotteserkenntnis zur Selbst- und Welterkenntnis?
2. Gebet und Erfahrung – phänomenologische Aspekte: Erfordert oder bewirkt das Beten eine besondere Form des Bewusstseins, und worin besteht der Unterschied zur Meditation? Anhand der Lektüre französischer Phänomenologen wie Emmanuel Lévinas, Jean-Luc Marion und Jean-Louis Chrétien werden wir die Intentionalität des Gebets untersuchen. Berühmte Gebete der Weltreligionen stellen uns überdies vor semantische und sprachpragmatische Fragen. Wie werden verschiedene Gotteserfahrungen (etwa das Gottvertrauen oder der Gotteszweifel) rhetorisch zum Ausdruck gebracht, wie verändern sich diese Erfahrungen im Klage-, Lob- oder Dankgebet, und welche Rolle spielt das schweigende, aufmerkende Hören auf Gott, das Stillesein vor ihm?
3. Gebet und Lebensorientierung – ethische Aspekte: Im Blick auf das menschliche Handeln stellt sich die Frage, inwiefern wir uns durch das Gebet existentiell orientieren und unsere Verantwortung für uns selbst, unsere Mitmenschen und unsere Mit- und Um-Welt wahrnehmen können. In diesem Zusammenhang sind die Tagebuchnotizen und Gebete sozial engagierter Frauen wie Simone Weil, Etty Hillesum und Madeleine Delbrêl sowie anderer großer Denker, die auch große Beter waren, relevant. In Diskussion mit Kritikern des Bittgebets wie Immanuel Kant und Religionsphilosophen wie Abraham Joshua Heschel, Dewi Z. Phillips und Vincent Brümmer werden wir zudem die Frage nach Kriterien für ein ‚angemessenes‘ Gebet zu beantworten suchen.
Erste Sitzung: 7. April
Letzte Sitzung: 14. Juli
Zum Seminar gehört zudem
der theologisch-pädagogisch-sprachphilosophische
Studientag am 5. Juni, 11.30-17.30 Uhr: „‚Aller Unterricht endet in einer Art Schweigen‘: Sprache
und (in)direkte Mitteilung bei Hamann und Kierkegaard“
Die Texte zum Seminar werden zeitnah in der e-learning-Plattform Moodle bereitgestellt.
Die individuellen Themen der Hausarbeiten vereinbaren wir im Laufe des Semesters. Bitte beachten Sie, dass die Abgabefrist auf 15. August 2020 festgelegt ist.
- Lehrende(r): Claudia Welz