Von den Romanen Johann Wolfgang von Goethes haben neben den Leiden des jungen Werthers und den Wahlverwandtschaften sicher Wilhelm Meisters Lehrjahre die größte Resonanz erfahren. Dies beruht vor allem auf seiner Komplexität und den vielfältigen Anschlussmöglichkeiten, dem Rückgriff auf zentrale Impulse und Wissensbestände des 18. Jahrhunderts sowie der Diskussion von zeitgenössischer Romanmodelle. So hielt Friedrich Schlegel 1808 fest:

Der Meister hat auf das Ganze der deutschen Literatur sichtbar wie wenige andere Erscheinungen gewirkt, und recht eigentlich Epoche gemacht, indem er dieselbe mit der Bildung und dem Geist der guten und schlechten Gesellschaft in Berührung setzte, und die Sprache nach einer ganz neuen Seite hin mehr bereicherte, als es vielleicht in irgendeiner Gattung durch ein einzelnes Werk auf einmal geschehen ist.[1]

Im Seminar nun wollen wir diesem epochemachenden Gehalt des Romans nachgehen. Dabei geht es zum einen um die Frage, welche Erzählformen der Roman anbietet und bereitstellt, zum anderen um die Frage, auf welche Weise Problemkomplexe wie Erziehung und Bildung, (National-)Theateridee und Shakespeare-Begeisterung, Kunst und Ökonomie, soziale und politische Reformbestrebungen, Pietismus und Schwärmerei, Genie und Wahnsinn und adelige Geheimgesellschaften im Text verhandelt werden. Im Zentrum des Seminars steht dabei die genaue Lektüre des Textes, die von der Diskussion exemplarischer Forschungsansätze flankiert und durch Ausblicke auf zentrale literaturhistorische und kulturelle Kontexte ergänzt wird.


[1] Friedrich Schlegel: „Goethes Werke“ nach der Cottaschen Ausgabe von 1806. Erster bis vierter Band. In: Friedrich Schlegel: Kritische Schriften, Hrsg. von Wolfdietrich Rasch. München 1964, S. 306.