Eine der nachhaltigsten Forschungskontroversen in der Antisemitismusforschung und der europäischen Historiografie ist die Frage, wie es zum Holocaust/zur Shoah kommen konnte. Gibt es einen „ewig gleichen Judenhass“ in Deutschland, der gleichsam zwangsläufig zum Genozid an den europäischen Jüd*innen geführt hat? Oder hat sich der Charakter der Judenfeindschaft zu irgendeinem Zeitpunkt grundlegend geändert, und der Holocaust/die Shoah war der katastrophale Höhepunkt dieser „neuen“ Judenfeindschaft?
Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat der Antisemitismus erhebliche Entwicklungen durchlaufen und ist in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen aufgetreten - von den vormodern anmutenden Hepp-Hepp-Unruhen 1819 über die Verunglimpfung osteuropäischer Juden als „eine Schar strebsamer Hosen verkaufender Jünglinge“ durch den Historiker Heinrich Treitschke im Jahre 1879 bis zur rassisch begründeten Judenfeindschaft der Antisemitenparteien der 1890er Jahre. Die naheliegende Vermutung, der Antisemitismus habe einen linearen Modernisierungsprozess vom religiös motivierten Antijudaismus zum pseudowissenschaftlichen Antisemitismus vollzogen, wird unterlaufen durch scheinbar antagonistische Phänomene wie die Ritualmordaffäre des Jahres 1900 im westpreußischen Konitz. Wir werden im Seminar solche Entwicklungstendenzen und Ungleichzeitigkeiten des Antisemitismus im langen 19. Jahrhunderts schwerpunktmäßig im deutschsprachigen Raum nachvollziehen und anhand von ausgewählten Themenschwerpunkten vertiefen.
- Lehrende(r): Christian Krumm
- Lehrende(r): Anna Michaelis