Die Berichte von Visionen, göttlichen Offenbarungen oder Reisen durch das Jenseits zählen aus heutiger Sicht fraglos zu den fremdartigsten Schriftzeugnissen des Mittelalters. In diesen Texten erzählen Geistliche und Ritter ebenso wie Bauern oder Mystikerinnen von den spirituellen Erlebnissen und göttlichen Offenbarungen, die sie im Rahmen von Träumen, Nahtodzuständen oder anderen Formen der ekstatischen Entrückung erfahren haben. Die über lange Zeit hinweg vorwiegend politik- und ereignisgeschichtlich orientierte Mittelalterforschung hat solchen Visionsberichten nur wenig Beachtung geschenkt, weil die Werke nur einen geringen faktenhistorischen Wert aufweisen. Erst die mentalitätsgeschichtliche Forschung der 1970er und 1980er-Jahre erkannte in der Visionsliteratur eine veritable Quelle für die Untersuchung der Erwartungen, Hoffnungen und Ängste mittelalterlicher Menschen. Dabei sticht besonders heraus, dass die hochmittelalterlichen Visionsdarstellungen abseits des hegemonialen Diskurses der gelehrten Theologie auch Zugang zu den religiösen Vorstellungswelten subalterner Teile der Gesellschaft eröffnen, zu denen etwa die Landbevölkerung sowie die Frauen zählen. Mit der kulturgeschichtlichen Wende zu Beginn der 1990er-Jahre ist die Visionsliteratur allerdings wieder in den Hintergrund getreten und wird seitdem vor allem von der Genderforschung rezipiert.

In der Quellenübung sollen ausgewählte Visionsberichte des Mittelalters sowohl auf Grundlage mentalitätsgeschichtlicher, als auch der Basis kulturgeschichtlicher Fragestellungen diskutiert werden. Der Fokus liegt dabei auf der Visionsliteratur des 12. Jahrhunderts, darunter u.a. die Berichte über die Visionen der französischen Mystikerin Alpais von Cudot, des irischen Ritters Tnugdal und des Bauern Gottschalk aus Holstein.

Literatur

  • Dinzelbacher, Peter: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 64), 2. Aufl. Stuttgart 2017.
  • Röckelein, Hedwig: Otloh, Gottschalk, Tnugdal. Individuelle und kollektive Visionsmuster des Hochmittelalters (Europäische Hochschulschriften 3/319), Frankfurt a. M. 1987.