„Ich nutze in meiner Arbeit gerne die Wirklichkeit, denn sie ist oft surrealer als alles, was ich mir ausdenken könnte […].“ Mit diesem Satz umreißt die amerikanische Künstlerin Lynn Hershman Leeson die Entgrenzung zwischen natürlicher und artifizieller Realität, die zu einem Symptom nicht nur der computerbasierten Medienkunst, sondern der menschlichen Existenz an sich im Informationszeitalter der digitalen Vernetzung geworden ist.

Lynn Hershman Leeson gilt neben Nam June Paik und Bill Viola als eine der weltweit einflussreichsten Pionier*innen der Medienkunst und interaktiven Kunst; als weibliche Medienkünstlerin, die sich intensiv mit geschlechtlichen Rollenbildern, Körper- und Identitäts(re)konstruktionen in einer zunehmend mediatisierten Gesellschaft auseinandersetzt, hat sie zudem einen maßgeblichen Beitrag zur Feminist Media Art geleistet. Ihr künstlerisches Œuvre, das von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart des Jahres 2021 reicht, ist medial äußerst vielfältig, es umspannt Skulptur, Installation, Fotografie, Video, Film, Performance, interaktive und webbasierte Kunst.

Von der ersten großen Retrospektive der Künstlerin in Deutschland (ZKM Karlsruhe 2015) ausgehend, sucht das Seminar einen medienkunsthistorischen Überblick zu geben über das insgesamt 50-jährige, von Self-Staging und Self-Fashioning geprägte Schaffen der Künstlerin. In den Blick genommen werden einerseits die unterschiedlichen medialen Zugänge und Erweiterungen der Medienkunst durch neue Technologien, für die das Werk von Lynn Hershman repräsentativ einsteht. Andererseits werden im Seminar die Hauptthemen der Künstlerin in Reflexion auf relevante medientechnologische wie mediengesellschaftliche Entwicklungen diskutiert, darunter die Virtualisierung und Pluralisierung des Ichs, die Konstruierbarkeit und Reproduzierbarkeit von Körpern im Zeichen von Biopolitik und Genetic Engineering, das komplexe Spiel mit Realitäten, die Schaffung von künstlichem Leben und künstlicher Intelligenz sowie das Ende der Privatsphäre durch die Formierung einer digitalen Überwachungsgesellschaft.